Leberwurst in goldener Folie

Leberwurst in goldener Folie
Der 09. November 1989 war ein ganz besonderer Tag für die Menschen im Osten und Westen. Denn an diesem Abend ging die Mauer in Berlin auf. Foto: Peter Kneffel/dpa

Ich war ein ausgezeichneter Geheimagent! Wenn meine große Schwester in der Schule war, stöberte ich manchmal heimlich in ihren Heften und Tagebüchern. War zwar langweilig, aber gemerkt hat sie es nie. Genauso wenig wie Mutti, wenn ich im Wohnzimmerschrank Süßigkeiten stibitzte. Alles geheim!

Der Trabant zählte zur berühmtesten Automarke in der DDR. Auch die Familie von Reporter Philipp Brandstädter hatte so einen Trabi. Foto: Philipp Brandstädter/-/dpa

Verbotene Dinge

Geheimnisse gab es in meiner Kindheit viele. Ich durfte niemandem erzählen, welche Filme wir schauten und welche Musik wir hörten. Denn das waren meist Filme und Lieder aus dem Westen. Es durfte auch niemand wissen, dass meine Tante in genau diesen Westen abhauen wollte. Das war alles streng geheim. Man konnte nie wissen, erklärte mir Mutti, ob uns jemand zuhört. Ein anderer Geheimagent etwa.

Die Reste der Berliner Mauer an der Bernauer Straße am 09.10.2014 in Berlin. Foto Alexandra _Stober

Zwei Deutschlands

Denn als ich etwa fünf Jahre alt war, gab es noch zwei Deutschlands. Wir wohnten in der DDR, im Osten. Viele von Muttis Verwandten lebten in der Bundesrepublik, im Westen – auch BRD genannt. Ich wusste, dass beide Länder durch eine Grenze voneinander getrennt waren. Wer in der DDR wohnte, durfte nicht in die BRD und viele andere Länder reisen. Also durften wir die Verwandten im Westen nicht besuchen.

Pakete aus dem Westen

Dafür schickten die manchmal Pakete mit Kaffee, Konserven, Süßigkeiten und Seife. Ganz selten war auch Geld in der Post – tief im Paket versteckt. Und zwar D-Mark, die Währung, mit der die Leute im Westen zahlten. Bei uns im Osten konnte man mit D-Mark in bestimmten Geschäften Sachen einkaufen, die es sonst nicht gab: Zigaretten für Papi, Zeitschriften für Mutti – und für mich Spielzeugautos.

Oftmals schickten Menschen aus dem Westen Verwandten in der DDR Pakete mit Waren, die es dort nicht gab. Foto: Philipp Brandstädter/-/dpa

Mutti war traurig

Muttis Onkel und Tanten aus dem Westen kannte ich nur aus dem Fotoalbum. Mutti war traurig und wütend, weil sie ihre Familie nicht besuchen durfte. Und weil viele Leute traurig und wütend waren, gingen wir jeden Montagabend zusammen auf die Straße und demonstrierten. Die Menschen wollten, dass sich in der DDR was ändert. Auch, dass sie das Land verlassen dürfen, wenn sie wollen.

Offene Grenze

Irgendwann passierte es: Ein Politiker verkündete eine unglaubliche Nachricht: Wir durften rüber. Die Bürger der DDR durften in den Westen ausreisen. Einfach so. Überall wurde gefeiert. Einige Tage später fuhren wir auch in den Westen. In unserem Trabant. So ein Auto hatten die meisten Leute im Osten. Im Westen dagegen gab es so viele verschiedene Automarken!

Große Freude

Ich erinnere mich, wie Mutti die Verwandten aus dem Westen umarmte und wie alle vor Freude weinten. Ich dagegen fand die neuen Dinge interessanter als die neuen Menschen. Zum Abendbrot gab es Käsescheiben, die haar genau auf das Toastbrot passten. Verrückt! Die Leberwurst war in goldene Folie eingewickelt. Die Leute im Westen mussten echt reich sein!

Geschichtsinfo

Deutschland war von 1949 bis 1990 in zwei Staaten geteilt: die Bundesrepublik Deutschland (BRD) im Westen und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Osten. Die DDR-Regierung riegelte ihr Land vom Westen ab. Die Grenzen zur BRD waren streng bewacht. Und durch die Stadt Berlin verlief eine Mauer. Dagegen demonstrierten die Leute. Am 9. November 1989, also heute vor 30 Jahren, wurde die Grenze geöffnet. Politiker planten, wie man beide Länder wieder zusammenbringen kann. Am 3. Oktober 1990 wurde Deutschland wiedervereint.

Philipp Brandstädter heute. Foto: Philipp Brandstädter, dpa

Von Philipp Brandstädter (dpa)