„Ich wollte ein Leben in Freiheit führen“

Meine Oma Rotraud (83) ist in der DDR aufgewachsen. Ein halbes Jahr vor dem Mauerbau, im Dezember 1960, ist sie nach Westdeutschland geflohen. Ich habe mit ihr über die Flucht und über ihre Erinnerungen an den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren gesprochen.
Warum bist du von deiner Heimatstadt Hettstedt im Harz nach Westdeutschland geflohen?
Meine große Schwester Anni war schon Mitte der 50er Jahre nach Köln gegangen. Damals waren die Grenzen ja noch offen. Ich habe dann bei einem Besuch dort im September 1959 deinen Opa Karl Heinz kennen gelernt – zufällig, als ich auf die Straßenbahn gewartet habe. Wir haben uns auf Anhieb verstanden, uns ganz oft Briefe geschrieben, als ich wieder zurück in der DDR war, und uns auch einige Male in Westberlin getroffen. Dann war klar: Wir wollen zusammenbleiben.
Dann bist du also vor allem der Liebe wegen geflüchtet?
Nicht nur. Ich wollte ein Leben in Freiheit führen, ohne Überwachung und Kontrolle durch den Staat. Und das war in der DDR nicht möglich. Spätestens seit meine Schwester in den Westen geflohen ist, war klar, dass ich unter Beobachtung stehe. So wurden beispielsweise die Briefe, die mir dein Opa geschrieben hat, geöffnet oder teilweise auch abgefangen. Generell herrschte keine schöne Atmosphäre in der DDR, weil man nie wusste, welcher Nachbar, Freund oder Bekannte Informationen über einen weitergibt. Wer etwas Kritisches über die Regierung gesagt hat, bekam schnell Ärger.
War die Flucht gefährlich?
Ein bisschen schon. Dein Opa und ich haben für die Flucht den ersten Weihnachtstag gewählt, weil wir hofften, dass dann weniger kontrolliert wird. Und das war auch so. Ich bin an diesem Tag um 5 Uhr morgens mit dem Bus von Hettstedt über die Dörfer nach Berlin gefahren. Damit ich nicht auffalle, hatte ich nur eine Handtasche mit meinen wichtigsten Unterlagen dabei – und sonst nur die Kleidung, die ich anhatte. Mehr nicht. So konnte ich unbemerkt nach Westberlin rüber. Dort habe ich deinen Opa getroffen – an der Uhr vor dem Bahnhof Zoo. Das war immer unser geheimer Treffpunkt. Karl Heinz hatte die Flugtickets dabei und dann sind wir direkt nach Köln geflogen, in mein neues Leben.
Das hört sich aufregend an. Hattest du Angst?
Mir war ganz schön mulmig zumute. Ich hatte natürlich Sorge, dass man mich erwischt. Aber ich wusste auch nicht, was mich in Westdeutschland erwartet, und ob ich jemals in meine Heimat zurück kann. Meine Mutter war leider schon einige Jahre zuvor gestorben und meinem Vater hatte ich nichts von meinen Fluchtplänen erzählt. Auch Freunden und Bekannten nicht. Zum Glück wohnte ja meine Schwester in Köln, so hatte ich noch eine weitere Anlaufstelle. Deinen Opa kannte ich ja damals auch erst seit gut einem Jahr und wusste nicht, wie sich das alles entwickelt.
Du bist wenige Monate vor dem Mauerbau geflohen. Hast du geahnt, dass die Mauer gebaut werden würde?
Ich nicht, aber dein Opa hat immer gesagt: Du musst bald kommen, sonst machen die die DDR dicht. Ich konnte das nicht glauben: Wie will man ein ganzes Land abschotten? Im Nachhinein war ich sehr glücklich, dass ich es rechtzeitig geschafft habe. Nach dem Mauerbau war es sehr viel gefährlicher, zu fliehen. Viele Menschen haben bei dem Versuch ihr Leben gelassen.
Vor 30 Jahren ist ja dann die Mauer gefallen. Wie hast du das erlebt?
Ich habe damals alles im Fernsehen verfolgt – und mich sehr über die Grenzöffnung gefreut. Vor allem darüber, dass der Fall der Mauer und der Zusammenbruch der DDR so friedlich und ohne Gewalt geschehen konnte. Das war ein großes Glück für uns alle. Dein Opa und ich haben uns einen Sekt aufgemacht und angestoßen.
Warst du danach nochmal in deiner alten Heimat?
Ja, wir sind einige Monate nach der Wende zu Verwandten gefahren, das war ein schönes Gefühl. Keine Grenzen mehr, keine Kontrollen und endlich konnten alle reisen, wohin sie wollten. Später war ich auch noch mal in meiner Heimatstadt und habe mein Elternhaus besucht. Viele enge Freunde aus der Schulzeit waren aber längst wie ich geflohen. In Berlin war ich aber seit meiner Flucht nicht mehr. Mein Zuhause ist jetzt das Rheinland.
Das Gespräch führte Kinderreporterin Mila

Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer am Brandenburger Tor am 10.11.1989. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
Warum gab es die Berliner Mauer?
Die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion hatten Deutschland im Zweiten Weltkrieg besiegt. Sie teilten das Land zwischen sich auf. Im Jahr 1949 entstanden zwei Staaten: Deutsche Politiker gründeten in den amerikanisch, britisch und französisch besetzten Gebieten die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Im Osten entstand die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Auch die Hauptstadt Berlin wurde geteilt: der West-Teil gehörte zur BRD, der Ost-Teil zur DDR.
Den Menschen, die in der BRD lebten, ging es viel besser als den Menschen, die in der DDR lebten. Sie wurden von den reichen Amerikanern unterstützt. Die Sowjetunion war aber selbst arm und konnte die DDR nicht unterstützten. Auch seine Meinung durfte man in dem Land nicht frei sagen. Weil das vielen Leuten nicht gefiel, flohen immer mehr in die BRD. In der Zeit von 1949 bis 1961 waren es mehr als zwei Millionen. Zum Vergleich: In Köln wohnt eine Million Menschen. Das gefiel der Regierung der DDR nicht. Denn es gingen vor allem gut ausgebildete Leute. Deswegen baute die DDR im Sommer 1961 eine Mauer – mitten durch Berlin! Auch die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland wurde sehr streng von Soldaten bewacht: Sie schossen auf Flüchtlinge. Etwa 1000 Menschen starben, als sie aus der DDR fliehen wollten.
Mit den Jahren wurden die Menschen in der DDR immer unzufriedener. Im Jahr 1989 demonstrierten sie auf der Straße. Politiker aus anderen Ländern setzten sich dafür ein, dass die Grenze geöffnet wird. Der Druck auf die DDR stieg. Am 9. November 1989 passierte es: Die Berliner Mauer wurde geöffnet! Ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, wurde aus DDR und BRD wieder ein Deutschland. Auch Berlin wurde wieder eine Stadt – und Hauptstadt.
Von Angela Sommersberg