Blind seit Geburt

Blind seit Geburt
Foto: Thilo Schmülgen

„Es ist 15 Uhr“ tönt es von Felix’ Handgelenk. „Entschuldigen Sie, das ist meine Uhr“, erklärt der Elfjährige höflich und drückt auf einen Knopf an seiner Armbanduhr. Sie ist eine sprechende Hilfe für Felix, denn die Zeiger kann er nicht erkennen: Er ist seit seiner Geburt blind.

Keine Schatten, kein Licht – alles ist dunkel für ihn. „Wenn mich ein Monitor anleuchtet, spüre ich nur die Wärme“, beschreibt Felix seine Blindheit. Schuld daran ist ein Gendefekt. Das bedeutet: Der Bauplan für seinen Körper ist von Anfang an ein wenig anders als der von gesunden Kindern.

Ausgeprägte Sinne

Dafür sind seine anderen Sinne sehr ausgeprägt. Wenn er zum Beispiel sein Ladekabel für seinen Laptop aus der Tasche zieht, befühlt er es blitzschnell und sucht somit den Stecker, damit er das Kabel an den Computer anschließen kann. Zudem kann Felix besonders gut riechen und hören. „Ich lausche gern“, gibt er zu und lacht. Wichtig ist nur: Wenn man in Felix’ Nähe ist, kündigt man Bewegungen am besten an, vor allem, wenn man ihn berühren will. Das gleiche gilt für Hindernisse.

Foto: Thilo Schmülgen

Weißes Hilfsmittel

Wenn Felix aus dem Haus geht, hat er meistens einen weißen Stock dabei. Den kann er ganz schnell ausklappen. Er streckt den Stock vor sich aus und pendelt ihn von links nach recht, ganz nah über dem Boden. Das ist ein spezieller Blindenstock. Damit fühlt Felix, ob der Boden uneben oder ob ein Gullydeckel vor ihm ist, über den er stolpern könnte.

Gute Ohren

Weil Felix so gut hören kann, hilft ihm noch etwas, um zu „sehen“: das Echo. Er „hört“ Hindernisse, weil sie den Schall zurückwerfen. Deshalb redet er manchmal etwas lauter, weil er dadurch „sieht“, wie weit eine Person von ihm entfernt ist. Oder er läuft sehr laut, weil er dadurch hört, wo ein Schrank steht. Zusätzlich beherrscht er eine Klick-Sprache, das sogenannte Klicksonar. Dafür schnalzt Felix schnell hintereinander mit der Zunge – Gegenstände in seiner Umgebung werfen das Echo dieser Geräusche zurück und er „sieht“. „Das ist schon praktisch“, sagt er, „aber es ist auch anstrengend für die Zunge.“ Weil Blinde mit dieser Technik „sehen“ können, finden es manche auch doof, wenn sie als „blind“ bezeichnet werden: Sie können nämlich sehen, nur eben nicht mit den Augen. Deshalb mögen es manche lieber, wenn sie als sehbehindert bezeichnet werden.

Foto: Thilo Schmülgen

Besondere Tastatur

Felix geht auf eine Gesamtschule – dort lernen auch sehende Kinder. Felix kann zwar nicht mit der Hand aufschreiben, was er im Unterricht lernt. Aber er hat seinen Laptop mit Sprachprogramm dabei, das ihm vorliest, was auf dem Bildschirm zu sehen ist – und er hat eine spezielle Tastatur: die sogenannte Braillezeile. Braille ist die Schrift der Blinden. Vielleicht hast du schonmal auf Medikamentenverpackungen ein paar Punkte bemerkt, die an der Seite aufgedruckt sind: das ist Braille, damit auch Blinde wissen, welche Tabletten in der Packung sind. Die Tastatur übersetzt zum Beispiel Buchstaben auf dem Monitor in Punktschrift – und Felix fühlt sie auf dem Gerät.

Tanzen und spazieren gehen

Bisher musste Felix auf so gut wie nichts verzichten, nur weil er blind ist. So tanzt er zum Beispiel in einem Karnevalsverein Garde-Tanz. Er lernt die Schritte und steht mit auf der Bühne. Zu Anfang zeigen ihm seine Eltern, in welche Richtung er schauen und tanzen muss, damit er dem Publikum nicht den Rücken zudreht. Auch Ski ist er schon gefahren – mit einem besonderen Blinden-Lehrer. Und in der Schule haben sich schon einmal alle anderen Kinder eine Augenbinde aufgezogen und blind Fußball mit Felix gespielt.

Besondere Farben

Ob sein Pullover grau, blau oder pink ist, weiß Felix nicht. „Das ist mir aber auch schnurzpiepegal“, gibt er zu und lacht. Seine Mama achtet aber darauf, dass er zwei gleiche Socken und die richtigen Schuhe anzieht. Später, wenn er mal alleine lebt, muss er seinen Schrank sehr ordentlich halten, damit er seine Klamotten auch findet. Dass er generell nicht weiß, wie gelb eine Sonnenblume leuchtet oder wie trist ein Wintertag sein kann, findet er nicht schlimm. Er lächelt und sagt: „Vielleicht sind die Farben, die ich mir vorstelle, viel schöner als die echten Farben.“

Von Jennifer Wagner