„Verändere etwas“

„Verändere etwas“
Leen und ihr erstes Buch. Foto: Alexander Roll


Wie man mit einem Taschenrechner umgeht? Das wusste Leen nicht, als sie hier in Deutschland in die achte Klasse kam. Kein Wunder: In ihrem Heimatland Syrien hat sie nur die erste Klasse besucht, danach konnte sie nicht mehr zur Schule gehen. Weil die Lehrer weg waren. Weil die Gebäude zerstört waren. Weil Krieg ausgebrochen war.

Mit ihrem Buch über ihre Flucht aus Syrien, gewinnt die 16 Jahre alte Leen Al-Sheik den KiKa-Award. Foto: Alexander Roll

Heute ist Leen 16 Jahre alt und besucht die Käthe-Kollwitz-Realschule in Köln-Brück. Über ihre Erlebnisse im Krieg und ihre Flucht nach Deutschland hat Leen ein Buch geschrieben. Dafür ist sie mit einem Kika-Award ausgezeichnet worden. Duda hat mit Leen gesprochen.

Der Bürgerkrieg in Syrien

Um zu verstehen, was Leen erlebt hat, muss man wissen, was in Syrien passiert ist: Vor zehn Jahren haben dort viele Menschen demonstriert. Sie wollten mehr Freiheiten haben und zum Beispiel offen ihre Meinung sagen dürfen. Doch der Präsident in Syrien, er heißt Baschar al-Assad, ließ die Proteste mit Gewalt und Waffen beenden. Danach gab es viele Kämpfe zwischen den Soldaten des Herrschers und den Leuten, die mehr Freiheit wollen (sie nennen sich Rebellen). Mit der Zeit mischten sich aber immer mehr Gruppen in den Krieg ein. So auch die Terror-Gruppe Islamischer Staat (kurz IS). Irgendwann waren so viele verschiedene Gruppen beteiligt, dass selbst Erwachsene den Überblick verloren haben. Und obwohl man heute nicht mehr viel über den Krieg in den Nachrichten hört: Noch immer gibt es schlimme Kämpfe in Syrien. Den Menschen geht es weiterhin sehr schlecht.

Leen. Foto: Bavaria Entertainment

Das ist Leen

Leen und ihr Zwillingsbruder wurden in Damaskus geboren, das ist die Hauptstadt von Syrien. Als der Krieg ausbrach, waren die Geschwister sechs Jahre alt und gerade in der ersten Klasse. „In der Zeit danach habe ich richtig viele schlimme Sachen erlebt“, erzählt Leen. So musste sie zum Beispiel die Schule verlassen, weil das Gebäude zerstört war. „Einmal gab es einen Angriff mit Chemie-Waffen. Und ein andermal wurde eine Rakete abgeworfen. Da mussten wir fünf Tage im Keller ausharren.“ Manchmal konnte sie wochenlang die Wohnung nicht verlassen, weil die Terror-Gruppe IS das Haus besetzt hatte. „Aber das schlimmste war, als unsere Wohnung im Krieg zerstört wurde.“ Danach zog Leen mit ihrem Bruder und den Eltern zur Oma. Doch auch dort herrschte Krieg.

Die Flucht

Als Leen zehn Jahre alt war, floh sie mit ihrer Familie in das Nachbarland Libanon. Die Großeltern waren auch schon dort. Denn das haben viele Syrer so gemacht. Zwei Jahre lang blieben sie dort, erst einem großen Lager, dann in einer Wohnung. „Auch im Libanon durfte ich nicht zur Schule gehen“, erzählt Leen. Irgendwann beschlossen die Eltern, dass es so nicht weitergeht. Sie wollten nach Deutschland. „Wir sind mit einem Flugzeug in die Türkei geflogen.“ Von dort aus wollten sie nach Griechenland. Doch schon wieder passierte etwas Schlimmes: „Das Schlauchboot, mit dem wir auf die Insel Lesbos fahren wollten, ist gekentert“, sagt Leen. Zwei Stunden lang waren sie im kalten Wasser bis sie gerettet wurden. In ihrem Buch steht in Großbuchstaben: „SOWAS WERDE ICH NIE IN MEINEM LEBEN VERGESSEN.“

In Deutschland

Von Griechenland aus ging es durch verschiedene europäische Länder weiter – mit Bahn, Bus und zu Fuß. „Wir haben in Zelten oder einfach so am Straßenrand geschlafen“, erinnert sich Leen. Irgendwann hatten sie es geschafft: Sie waren in Deutschland. Erst in der Stadt Lüdenscheid, dann in Bochum, Herne und schließlich in Köln. „In Köln haben wir ein Jahr lang in einer Turnhalle mit vielen anderen Menschen gelebt.“ In den ersten sechs Monaten durfte Leen auch hier noch nicht zur Schule gehen. In der Zeit hat sie ihr Buch geschrieben. Und schonmal ganz alleine für die Schule gelernt: Deutsch, Mathe und Englisch. Schließlich durfte Leen endlich in die Schule. In einer sogenannten Willkommensklasse war sie zusammen mit Flüchtlingen aus anderen Ländern. Hier hat sie vor allem Deutsch gelernt. In einem Verein hat sie Nachhilfe bekommen. „Ich war ja so lange nicht in der Schule. Deswegen fehlten mir viele Grundlagen“, erzählt Leen.

Es geht aufwärts!

Mittlerweile hat die Familie eine eigene Wohnung, die Eltern haben Arbeit. In der Schule kommt Leen gut zurecht, im Sommer macht sie ihren Abschluss auf der Realschule. Danach möchte sie aufs Gymnasium und Abitur machen. „Ich träume davon, Rechtsanwältin zu werden“, sagt sie. Mittlerweile hat sie noch ein zweites Buch geschrieben. Wenn alles gut läuft, werden beide Geschichten bald veröffentlicht. „Ich wünsche mir, dass viele Leute die Bücher lesen, damit sie verstehen, dass nicht alle Flüchtlinge gleich sind“, sagt Leen. Manche behaupteten, dass die Flüchtlinge nur wegen des Geldes nach Deutschland kommen würden. Leen aber ist gekommen, weil ihre Familie in Syrien nicht mehr leben konnte. Obwohl noch einige Verwandten dort sind, vermisst Leen ihr Geburtsland nicht. „Dort habe ich ja nur Schlechtes erlebt. Köln ist jetzt mein Zuhause.“

Foto: Frank Hempel, ZDF

Das ist der Kika-Award

Im November 2020 wurden die Kika-Awards in fünf verschiedenen Kategorien zum ersten Mal verliehen. Es wurden Kinder und Jugendliche ausgezeichnet, die sich für die Umwelt oder andere Menschen einsetzen oder etwas Neues erfunden haben. Leen aus Köln wurde für ihr Buch in der Kategorie „Make a change“ ausgezeichnet, auf Deutsch heißt das so viel wie „Verändere etwas“. „Als ich gehört habe, dass ich gewonnen habe, musste ich weinen“, erzählt Leen.

Hier kannst du dir Ausschnitte aus dem Buch im Internet anhören:
https://www.youtube.com/watch?v=olJIQsLOcLo

Von Angela Sommersberg