Eine Familie, ein Zimmer

Eine Familie, ein Zimmer
Dort wo Marc Mendelson steht, stand früher das Haus, in dem Vorfahrinnen zwangsweise hausen mussten. Rose Mendelsohn und Lilli Henoch wohnten im zweiten Stock. Foto: Karlotta Ehrenberg/dpa

Diese Situation ist kaum vorstellbar: Eine Familie wird gezwungen, umzuziehen und sich eine Wohnung mit Fremden zu teilen. Dieses Schicksal erlebten jüdische Menschen vor 85 Jahren in Deutschland.

Marc Mendelson steht vor einem Haus in der Kleiststraße 36 in Berlin. Vor mehr als 80 Jahren stand dort ein anderes Haus. Marc Mendelsons Stief-Urgroßmutter Rose Mendelsohn und ihre Tochter Lilli Henoch wohnten damals dort im zweiten Stock. Aber: „Das Haus wurde im Krieg zerstört“, sagt Marc Mendelson.
Damals regierten die Nationalsozialisten in Deutschland, kurz Nazis. Sie brachten sehr viele Menschen um. Dazu zählten vor allem Juden und Jüdinnen, also Menschen, die der Religion Judentum angehören. Außerdem griffen deutsche Soldaten viele Länder an und lösten so den Zweiten Weltkrieg aus.
Die Nazis erließen viele neue Gesetze. Eines zwang Juden, ihr Zuhause zu verlassen und zu anderen Juden zu ziehen. Es trat am 30. April vor genau 85 Jahren in Kraft. In Berlin und zum Beispiel Düsseldorf und Dresden entstanden daraufhin „Judenhäuser“. In denen mussten Juden auf engem Raum zusammenleben. Heute werden solche Wohnungen Zwangsräume genannt.

Als die Nationalsozialisten herrschten, mussten Rose Mendelsohn und Lilli Henoch in eine Wohnung für jüdische Menschen umziehen. Foto: Alex Ehlert/dpa

Schule war verboten

Auch Rose Mendelsohn und ihre Tochter mussten zu einer fremden jüdischen Familie ziehen. Denn auch sie waren Jüdinnen. „Lilli und Rose mussten sich ein Zimmer teilen“, erzählt Herr Mendelson. Er vermutet, dass die beiden Frauen auf die Jungen der Familie aufpassten. Jüdische Kinder durften damals keine öffentlichen Schulen besuchen. Die Mutter der Jungen wurde gezwungen, in einer Fabrik zu arbeiten.

Lilli Henoch sei eine berühmte Leichtathletin gewesen und habe mehrere Rekorde geholt, sagt Marc Mendelson. „Unter den Nazis durfte sie aber nicht mehr als Sportlerin arbeiten.“

Marc Mendelson hat die Geschichte seiner Familie erforscht. Foto: Karlotta Ehrenberg/dpa

Herr Mendelson hat die Geschichte des Hauses erforscht: „Vieles habe ich aus Archiven erfahren“, erklärt er. Dort liegen zum Beispiel die alten Grundrisse des Hauses. So konnte er sehen, welche Wohnungen es gab und wie viele Zimmer sie hatten. Im Internet hat Herr Mendelson
alte Telefonbücher gefunden. „Da konnte ich genau nachlesen, wer in der Kleiststraße 36 gewohnt hat“, erklärt er. Von alten Fotos aus einem Stadtmuseum weiß er, wie das Haus früher ausgesehen hat.

Digitale Ausstellung

Die Geschichte des Hauses ist nun Teil einer digitalen Ausstellung über Zwangsräume. Marc Mendelson hat daran mit dem Geschichtsverein „Aktives Museum“ mitgewirkt. Auf einer Karte und auf Fotos sieht man nun, wo und wie jüdische Menschen in Berlin damals hausen mussten.

Das sind Stolpersteine. Sie erinnern an Menschen, die von diesem Ort vertrieben wurden. Foto: Friso Gentsch/dpa

„In der Wohnung in der Kleiststraße 36 hätten damals 18 Juden gewohnt, erklärt Marc Mendelson. „Nur sechs haben überlebt.“ Die Mehrheit sei von Nazis verschleppt und getötet worden. Darunter seien auch seine
Verwandten gewesen.

Obwohl die Geschichte so traurig ist, ist Herr Mendelson froh, sie erforscht zu haben. „Es ist ein Teil unserer Familiengeschichte“, sagt er. „Ich finde es wichtig, dass wir über ihr Schicksal Bescheid
wissen und auch andere davon erfahren.“

Von Karlotta Ehrenberg (dpa)