Wenn der große Bagger kommt

Wenn der große Bagger kommt
Eine Kohlebagger. Foto: David Young/dpa


Was siehst du, wenn du aus dem Fenster guckst? Einen Baum vielleicht. Das Nachbarhaus. Oder eine Schule. Wenn Pia aus dem Fenster guckt, sieht sie einen riesigen Bagger. „Der ist viel größer als unser Haus“, sagt die Achtjährige. Und jeden Tag rückt der Bagger ein kleines Stückchen näher an Pias Haus heran. Irgendwann wird das Haus abgerissen, damit der Bagger dort arbeiten kann. Deswegen nennt Pia ihn den „bösen Bagger“. Doch was hat es damit auf sich?

Foto: Imago Images

Was ist das für ein Bagger?

Pia und ihre Familie leben in Keyenberg. Der Ort liegt nordwestlich von Köln, in der Nähe der Stadt Erkelenz. In Pias Haus gibt es sieben Zimmer. Für sie, ihren großen Bruder, den Vater und die Mutter. Pias Oma wohnt gleich um die Ecke. „Wir haben auch einen großen Garten. Dort hat mein Vater sogar eine Seilbahn gebaut“, erzählt Pia. Auf die sind ihre Klassenkameraden ganz schön neidisch. Bald aber wird es den Ort Keyenberg, Pias Haus und die Seilbahn vermutlich nicht mehr geben. Alle Familien, die dort leben, sollen in einen neuen Ort umziehen, nach Neu-Keyenberg. Dann werden die alten Häuser abgerissen. Und dann kommt der große Bagger. Er gräbt in der Erde tief unter Keyenberg nach Braunkohle.

Was ist Braunkohle?

Dafür musst du wissen: Vor vielen Millionen Jahren gab es im Rheinland riesige Wälder mit großen Farnen und hohen Bäumen. Diese Pflanzen sind irgendwann gestorben, zu Boden gefallen und in den moorigen Boden eingesunken. Dann wurden sie zum Beispiel durch Sand und Steine von Flüssen überdeckt und immer fester zusammengepresst. Irgendwann entstand daraus die Braunkohle. Man kann also sagen, dass Braunkohle die zusammengepressten Reste von toten Pflanzen sind.

Das Besondere: Wenn man die Braunkohle verbrennt, entsteht Energie. Und aus dieser Energie wiederum kann man Strom gewinnen. Um das Licht anzuschalten, Fernsehen zu gucken oder das Handy aufzuladen. Heute weiß man aber: Beim Verbrennen entsteht nicht nur Energie, sondern auch das Gas Kohlenstoffdioxid (CO2). Und das ist, wie du vielleicht weißt, sehr schlecht fürs Klima. Zu viel CO2 in der Luft ist ein Grund dafür, dass es auf der Erde immer wärmer wird.

Pia. Foto: Privat

Warum muss Pia umziehen?

Im Rheinland baggert die Firma RWE nach der Braunkohle und produziert damit Strom. „Ich finde es komisch, dass wir deswegen umziehen müssen“, sagt Pia. „Können die nicht woanders nach der Braunkohle graben?“ Jein. In bestimmten Gegenden liegt besonders viel Braunkohle unter der Erde. So ist es auch in Keyenberg. Deswegen hat die Firma RWE die meisten Häuser in dem Ort gekauft.

Mit dem Geld sollen die Leute sich neue Häuser in dem neuen Ort bauen. Der liegt sieben Kilometer weit entfernt. Das macht auch Pias Familie. Das neue Haus liegt direkt neben dem Spielplatz und der Kirche. „Mein Zimmer in dem neuen Haus ist größer. Und ich habe sogar einen Balkon“, sagt Pia. Ihr Bruder hat ein Zimmer, das über zwei Etagen geht. Auch die Oma bekommt nebenan ein neues Haus.

Obwohl sich das alles ganz gut anhört, ist Pia traurig. „Der böse Bagger macht alles kaputt. Mein Vater hat so tolle Sachen gebaut. Und das Dorf ist so schön. Auch die Kirche ist richtig toll!“ Obwohl Pia gerne in die Kirche geht, will sie die in Neu-Keyenberg nicht betreten. „Die ist richtig hässlich. Da gehe ich nicht rein!“, sagt die Achtjährige.

Gibt es keine andere Lösung?

An mehreren Stellen im Rheinland gibt es Dörfer wie Keyenberg, die wegen der Braunkohle weg müssen. Manche sind schon vor vielen Jahren umgesiedelt worden, mit anderen soll das in Zukunft noch passieren. Dagegen haben die Menschen, die in den Orten leben, immer wieder protestiert.

Das Verrückte ist: Spätestens ab dem Jahr 2038 soll in Deutschland gar kein Strom mehr aus Braunkohle gewonnen werden. Denn das ist ja schlecht für das Klima. In Zukunft soll der Strom aus den sogenannten erneuerbaren Energien entstehen, also aus der Kraft von Wasser, Wind und Sonne. Heute reicht dieser Strom aber noch nicht aus, um alle zu versorgen.

Politiker der Landesregierung Nordrhein-Westfalen haben vor kurzem beschlossen: Keyenberg und vier andere Orte sollen erst später umziehen – und vielleicht auch gar nicht. Denn wenn in ein paar Jahren genug Strom aus erneuerbaren Energien gewonnen werden könnte, wäre es nicht mehr nötig, Braunkohle abzubauen.

Wie geht es für Pia weiter?

Trotzdem: Für Pias Familie und viele andere aus dem Dorf ist es schon zu spät. Die allermeisten haben ihre Grundstücke bereits an RWE verkauft – und neue Häuser in Neu-Keyenberg gebaut. Viele von Pias Freundinnen sind sogar schon umgezogen. Noch gibt es die Grundschule in dem alten Ort, doch auch sie wird im Sommer 2022 geschlossen. Dann wechselt Pia aber sowieso auf die weiterführende Schule. Auch der Supermarkt, der Metzger, der Bäcker, die Sparkasse und der Kindergarten haben bereits geschlossen.

Aus ihrem alten Kindergarten hat Pia sich übrigens eine besondere Erinnerung mitgenommen: die Hängematte. „Als der Kindergarten zugemacht hat, sollten viele Sachen weggeschmissen werden, auch die Hängematte“, erzählt Pia. „Ich verstehe gar nicht, warum die niemand haben wollte – früher hat die jeder gemocht.“ Die Hängematte will sie in ihr neues Zimmer hängen.

Damit ein kleines Stückchen von Keyenberg auch in Neu-Keyenberg seinen Platz findet.

Von Angela Sommersberg