Weihnachtsgeschichte Teil 1: Der Wunschzettel

Illustration: Alex Jahn
Illustration: Alex Jahn

Der Kinder- und Jugendbuchautor Frank Maria Reifenberg hat für euch eine Weihnachtsgeschichte in vier Teilen geschrieben. Hier lest ihr Teil 1.

Ein paar Wochen vor Weihnachten schreibt Tim seinen Wunschzettel für Weihnachten. Eigentlich ist er schon zu alt dafür, findet er, aber bei Kruses ist daran nicht zu rütteln: Nur wer seine Wünsche aufschreibt und im Holzkästchen hinten im Garten des Hauses versteckt, hat Aussichten auf Geschenke. Dort werden die Wunschzettel nämlich abgeholt und dann erfüllt. Vielleicht.

Tim hat sich oft auf die Lauer gelegt, weil er fest davon überzeugt ist, dass seine Mutter die Zettel holt und nicht der Weihnachtsmann, aber es ist ihm nie gelungen, sie dabei zu ertappen.

Als er das Kästchen gerade verschlossen hat, hört er im Nachbargarten ein Wimmern. In diesem Haus wohnt Laura. Laura steckt ihren Wunschzettel immer in eine wasserdichte Hülle und klemmt sie hinter das Fallrohr der Regenrinne. Genau aus der Ecke, wo das Fallrohr in die Regentonne mündet, kommt das Schluchzen.

Tim glaubt zuerst, es könnte Laura sein, obwohl die sich nie in den verwilderten Garten von Herrn Skrutsch aus dem Erdgeschoss wagt. Und tatsächlich, sie ist es nicht, denn Laura steht oben am Fenster und gibt Tim Zeichen. Sie weist mit dem einen Zeigefinger nach unten, dann legt sie den der anderen Hand auf die Lippen.

Tim schleicht zu der Backsteinmauer, die die beiden Grundstücke voneinander trennt, und klettert hinauf. Von dort hat er einen guten Blick und hört nun deutlich die Worte, die hinter der Regentonne hervorkommen. „Oje, was soll aus mir werden“, jammert es dort. „Sie sind weg!“

Kurz darauf quietscht die Hintertür des Nachbarhauses. Laura kommt heraus. Das ist mutig, denkt Tim, denn Herr Skrutsch wird fuchsteufelswild, wenn man seinen Garten betritt.

„Was suchst du da?“, fragt Laura erstaunt und schaut hinter die Regentonne. Statt einer Antwort kommt nur ein erschreckter Schrei und alles geht blitzschnell. Etwas springt auf, der Deckel der Regentonne scheppert und etwas flitzt über die Mauer zu Tim hinüber, stößt ihn um und purzelt mit ihm von der Mauer.

Das Etwas ist ziemlich klein, grün und rot und bärtig, es schlägt und trampelt und es schreit: „Hast du sie gestohlen? Bist du der Dieb? Lass Rollo los!“ Aber Tim hält fest. Denn wann erwischt man schon mal ein Kerlchen, das genauso aussieht wie die Weihnachtswichtel in dem Buch, aus dem Tims Vater jedes Jahr an den Advents-Sonntagen vorliest? Der Wichtel beißt Tim in den Finger und quetscht eine ungeheuerliche Anschuldigung zwischen den Zähnen hervor: „Dubischt d’r Düb. Här mit’n Wnschzttln!“
Frank Maria Reifenberg

Frank Maria Reifenberg im Interview

Interview